Proteste in Hirschhorn und Friedrichshafen gegen die Krankenhausreform (1)

Straßenaktion und Infostand in Hirschhorn

Vergangenen Sonntag protestierten der DGB Hirschhorn-Neckarsteinach, der Ortsverband Hirschhorn des VdK und das Bündnis für Krankenhaus und gute Arbeit Neckartal-Odenwald mit einem Infostand beim Flohmarkt in Hirschhorn für einen grundlegenden Richtungswechsel im Gesundheitswesen und informierten über ihre Arbeit.

Unter anderem warben sie für die Unterstützung der Proteste, zu denen die Gewerkschaft ver.di anlässlich der Gesundheitsministerkonferenz 2023 am 5. Juli in Friedrichshafen am Bodensee aufrief. Zur von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ausgerufenen „Revolution“ erklärt die Gewerkschaft ver.di: „Richtig so! Das deutsche Gesundheitswesen braucht in der Tat grundlegende Veränderungen. Die Gesundheitsminister*innen des Bundes und der Länder müssen ihre Politik neu ausrichten. Für uns ist die Richtung klar: Gemeinwohl statt Profit. Solidarität statt Wettbewerb.“ In dem Mobilisierungsflyer appellierte ver.di für die einzelnen Bereiche der Daseinsvorsorge in der Gesundheit:

Für die Krankenhäuser fordern wir: Das gesamte Budget der Kliniken mit den Personalkosten aller Berufsgruppen muss raus aus dem Finanzierungssystem der Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG)! Die tatsächlichen Kosten müssen bei wirtschaftlicher Betriebsführung voll erstattet werden. Die DRGs gehören abgeschafft. Zudem müssen die Länder ihrer Verpflichtung zur Finanzierung von Investitionen der Krankenhäuser endlich umfassend nachkommen. Bettenabbau und (Teil-)Schließungen aus rein wirtschaftlichen Motiven müssen unterbleiben.

Die von ver.di, dem Deutschen Pflegerat und der Deutschen Krankenhausgesellschaft vorgelegte Personalbemessung für die Krankenpflege, PPR 2.0, muss rasch verbindlich eingeführt werden. Sollte der Bundesfinanzminister sein Veto einlegen, gibt es Ärger! Die Qualität der Pflege darf sich nicht nach der Kassenlage richten. Es braucht endlich Vorgaben für die Anzahl des Personals, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren, und zwar für alle Berufsgruppen im Krankenhaus. Alle ausgegliederten Bereiche gehören in die Kliniken zurück. Ein Betrieb, eine Belegschaft, ein Tarifvertrag!

Für die Psychiatrien fordern wir: Die Personalvorgaben der PPR-RL müssen endlich zu 100 Prozent verbindlich, Verstöße bestraft werden. Derzeit wird die Mindestausstattung nur zu durchschnittlich 78 Prozent eingehalten. Die längst überholten Mindestvorgaben müssen dringend an aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Behandlungsbedarfe angepasst werden.

Auch in psychiatrischen Einrichtungen muss überall gelten: ein Team – ein Tarifvertrag! Und es gilt weiterhin die Forderung: Keine Nacht allein!

Für die Altenpflege fordern wir: Verbindliche und bedarfsgerechte Personalbemessung – einheitlich von der Nord- und Ostsee bis zum Bodensee. Denn der Bedarf für gute Pflege unterscheidet sich nicht nach Wohnort.

Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zur Solidarischen Pflegegarantie: Alle Bürger*innen beteiligen sich entsprechend ihres Einkommens an der Finanzierung und haben Anspruch auf Erstattung aller pflegebedingten Kosten.

Flächendeckende Anwendung von Tarifverträgen.

Versorgungsverträge nur mit kommunalen oder gemeinnützigen Pflegeeinrichtungen.

Für die Reha-Einrichtungen fordern wir: Volle Refinanzierung von Tarifverträgen. Denn die Bezahlung muss sich dringend verbessern, um Beschäftigte zu gewinnen und zu halten.

Auch in der Rehabilitation braucht es bedarfsgerechte und einheitliche Personalvorgaben.

Für den Rettungsdienst fordern wir: Runter mit den Höchstarbeitszeiten! Der Staat als Arbeitgeber muss im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) dem Vorbild des DRK-Reformtarifvertrags folgen

ver.di in Friedrichshafen: „Gemeinwohl statt Profit – Solidarität statt Wettbewerb“

Foto: Arno vom „Bündnis für Krankenhaus und gute Arbeit Neckartal-Odenwald“ und Joachim von „Rettet unser Rosmann-Krankenhaus Breisach e.V.“ mit der Fahne des bundesweiten Zusammenschlusses „Bündnis Klinikrettung“ bei „Gemeingut in BürgerInnenhand“.

Am Morgen des 5. Juli 2023 vor der Demo anlässlich der Gesundheitsministerkonferenz liegt in einem Café in Friedrichshafen die Schwäbische Zeitung aus mit dem Aufmacher: „Kretschmann befürwortet Krankenhausschließungen“. In dem Beitrag werden ein paar Gemeinplätze Kretschmanns zitiert, die aber an der Alltagswirklichkeit kleiner Krankenhäuser im ländlichen Raum und den Bedürfnissen vieler Patient*innen vorbeigehen. Sie lassen sich aber billig verkaufen: „Wir dürfen keine Krankenhäuser erhalten, in denen sich kaum jemand operieren lässt.“ Und weiter: „Wenn ein örtliches Krankenhaus schließen soll, unterschreiben 90 Prozent der Menschen für den Erhalt. Wenn sie aber selbst eine größere Operation benötigen, suchen sie sich ein Krankenhaus aus, das darin besonders gut ist.‟  Damit wirft der baden-württembergische Ministerpräsident, der einmal mit dem Anspruch einer „Politik des Gehörtwerdens“ sein Amt angetreten hatte, mit Schmutz auf kleinere Krankenhäuser, um anschließend abwertend sagen zu können: Schaut sie Euch an!

Gegen 12 Uhr formiert sich dann der Demonstrationszug, zu welcher der Fachbereich Gesundheit der Gewerkschaft ver.di aufgerufen hat. Bevor die Demo loszieht, treffen Aktivisten aber noch mit einer szenischen Aufführung die Stimmung der Protestierenden: Wettbewerb, DRG-Pauschalen, Aktiengewinne, Profite, Dividenden und Konkurrenz werden „über die Planke“ geworfen und die Krankenhausreform als eine Mogelpackung entlarvt. Dann ziehen etwa 500 Protestierende lautstark los. Sie halten Fahnen und viele Transparente mit kreativen Sprüchen hoch.

Die kämpferische Demo zieht durch Friedrichshafen zum Graf-Zeppelin-Haus, wo der erste Konferenztag der Gesundheitsministerkonferenz am 5. und 6. Juli stattfindet. Die Kundgebung findet auf dem Platz vor dem Konferenzhaus statt: verschiedene Redebeiträge von Beschäftigten in den verschiedenen Bereichen, von der Jugend bzw. Auszubildenden, vom Marburger Bund, ein Solidaritätsbeitrag von der IG Metall Friedrichshafen usw. Aus Dresden trifft ein Konvoi mit etwa zwanzig Radfahrern ein. Die Aktion SOS berichtet, an die Gesundheitsministerien Gefährdungs- und Überlastungsanzeigen aufgrund der prekären personellen Situation an den Arbeitsplätzen geschrieben zu haben. Kritik wurde auch am Plan des baden-württembergischen Gesundheitsministers Manfred Lucha laut, eine Pflegekammer mit Zwangsmitgliedschaft für die Beschäftigten in der Pflege einzuführen.

Zwischenrein eine auflockernde Wasseraktion von etwa 25 Badenden im Bodensee unter dem Motto „Notruf vom See“.

Schließlich holte das für Gesundheitspolitik zuständige ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler zu einem Rundumschlag gegen die von Lauterbach geplante Krankenhausreform aus. Sie forderte eine flächendeckende, bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, gute Arbeitsbedingungen, mehr Personal und bessere Löhne.

Das Gesundheitswesen solle solidarisch finanziert werden. Angesichts der Inflation und der akuten Finanznot der Krankenhäuser mahnte Bühler ein Vorschaltgesetz an: Kliniken müssten jetzt ausreichend finanziert werden, damit sie nicht in die Insolvenz getrieben werden. Es dürfe keinen kalten Strukturwandel in der Krankenhauslandschaft durch die Hintertüre geben.

Eine Revolution im Gesundheitswesen, wie sie Lauterbach ausgerufen hatte, sei gut, davon sei aber noch nichts zu spüren. Erforderlich sei eine Abkehr von der Ökonomisierung. Die DRG-Fallpauschalen dürften nicht nur angebohrt werden, sondern gehören vollständig abgeschafft. Und die Landesgesundheitsministerien müssten ihrer Pflicht zur Finanzierung der Investitionskosten nachkommen. Die Politik dürfe nicht weiter Vertrauen verspielen, die Menschen benötigten Sicherheit. Darauf verwiesen wurde auch, dass daneben noch gleichzeitig ein kleine Gruppe Querdenker*innen demonstrierte.

Sylvia Bühler erklärte ihr Entsetzen, dass der Posten Gesundheit im Bundeshaushalt 2024 um 8 Milliarden Euro (und damit wieder unter das Niveau im Jahr 2019 vor Corona) gekürzt werde. Gesundheitsminister Lauterbach verstecke sich hinter Finanzminister Lindner. Dabei werde aber dringend Geld benötigt, um die Transformation im Gesundheitswesen, in der Digitalisierung, in der Personalgewinnung usw. voranzutreiben. Bühler forderte die Landesgesundheitsminister auf, an einem Strang zu ziehen. Alle Personalkosten müssten refinanziert werden, die Aufspaltungen der Belegschaften in den Krankenhäusern durch Ausgliederungen usw. beendet werden. Es gelte: ein Tarifvertrag für alle Beschäftigtengruppen in einem Betrieb.

Markt und Wettbewerb hätten unser Gesundheitssystem zerstört. Bühler wiederholte daher die Forderung: „Gemeinwohl statt Profit – Solidarität statt Wettbewerb“. Die Politik habe die Verantwortung, Personal zu gewinnen, indem sie den Rahmen für gute Arbeitsbedingungen schaffe.

Schließlich stellten sich noch die Gesundheitsminister*innen den Protestierenden. Sie wurden mit einem Pfeifkonzert und Buh-Rufen empfangen (links Sylvia Bühler vom Fachbereich Gesundheit bei ver.di sowie die Gesundheitsminister Lucha und Lauterbach am Rednerpult, dahinter Karl-Josef Laumann aus Nordrhein-Westfalen, rechts Klaus Holetschek aus Bayern). Der baden-württembergische Gesundheitsminister Manfred Lucha bezeichnete die Krankenhausreform als eine Gelegenheit, eine Zukunftsstruktur zu schaffen. Und zu dem lautstarken Widerspruch aus der Versammlung meinte Lucha: „Mit dieser Grundhaltung werden wir diese Herausforderung nicht schaffen.“ Es gelte „bedarfsgerechte Organisationsformen zu finden für Patienten und Personal“.

Karl Lauterbach drängte: Wenn es jetzt zu keiner Reform komme, dann werde der Spuk weiter gehen. Seine widersprüchliche Versicherung, die Fallpauschalen abschaffen zu wollen, indem 60 % der Kosten über das Vorhaltebudget, aber trotzdem noch 40 % „über Fälle“ finanziert würden, konnte er nicht glaubhaft erklären: dies würde doch den Druck massiv runter nehmen. „Wer aber 40 % nicht schafft, hat keine Daseinsberechtigung“. Ohne Reform käme es zu einem unkontrollierten Krankenhaussterben. Mit erhobenem Daumen verabschiedete er sich.

Sylvia Bühler erwiderte, dass das Gesundheitswesen kein Markt sein dürfe, Daseinsfürsorge müsse sich nicht rechnen.

 

Nachtrag: „Sondervermögen Krankenhäuser“

Am Tag vor der Demonstration war bekannt geworden, dass alle Posten im Bundeshaushalt 2024 gekürzt werden sollen, ausgenommen der Verteidigungshaushalt. Besonders betroffen ist der Posten Gesundheit: standen 2023 dafür noch 24,5 Milliarden Euro zur Verfügung, sind für 2024 nur noch 16,2 Milliarden vorgesehen, was eine Kürzung um ein Drittel bzw. 8,3 Milliarden Euro bedeutet. Lauterbach steht damit als Verlierer da. Dieser Gesundheitsetat liegt damit zwar noch über dem Vor-Corona-Niveau von 2019, als 15,3 Milliarden bereitgestellt worden waren, was für 2024 gegenüber 2019 eine Steigerung von nicht ganz 6 % bedeuten würde. Allerdings wird die kumulierte Inflation in diesem Zeitraum mindestens 17 bis 21 % betragen, hinzu kommen während dieser Zeit zahlreiche Verwerfungen im Gesundheitsbereich, sodass für die Krankenhäuser im Jahr 2023 ein Defizit von grob 10 Milliarden Euro erwartet wird und eine Insolvenzwelle droht. Von daher ist bis zur Klärung der Krankenhausreform ein „Sondervermögen Krankenhäuser“ dringend notwendig. Sowieso sind die meisten Ausgaben im Posten Gesundheit üblicherweise Zuschüsse zur GKV (vielleicht rund 90 %), sodass für Krankenhäuser kaum etwas übrig bleiben würde.

Die gegenüber 2023 gekürzten 8,3 Milliarden Euro werden dringend als Überlebenshilfe für die Krankenhäuser benötigt. 8 Milliarden sind aber ziemlich genau auch der Betrag, welche die Bundesregierung für die Anschaffung von 60 Chinook-Transporthubschraubern aus den USA und die dafür benötigte Infrastruktur ausgeben will, zu bezahlen mit den „Sondervermögen Bundeswehr“ genannten Sonderschulden. (Nebenbei zur Diskussion um kulturelle Aneignung: „Chinook“ ist ein nordamerikanisches indigenes Volk). Wenn 8 Milliarden Euro für die Anschaffung von Militärhubschrauber da sind, sollten auch 8 Milliarden zur Rettung unserer Krankenhäuser da sein. Es sollte nicht vergessen werden, dass unser gesamtes gesellschaftliches Leben während der Corona-Pandemie von den Kapazitäten der Krankenhäuser abhängig gemacht und ihnen untergeordnet wurde.

In einer Pressemitteilung vom 6.7.2023 erklärt die Aktionsgruppe „Schluss mit Kliniksterben in Bayern“ ihre Fassungslosigkeit über die Kürzungen beim Einzelplan Gesundheit im Bundeshaushalt: Seit Monaten propagiere Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, Ziel der Krankenhausreform sei es, unnötige Klinikschließungen zu vermeiden und flächendeckend eine qualitativ hochwertige Versorgung auch in ländlichen Regionen sicherzustellen. „Das Gegenteil ist der Fall: Die Quote insolvenzgefährdeter Krankenhäuser war noch nie so hoch wie  heute. Die Krankenhäuser schreiben bundesweit stündliche Defizite im Umfang von –572.322 € … Das ist Wahnsinn! Wer jetzt im Bundeshaushalt die Mittel um 33 Prozent kürzt und kein Geld für Soforthilfeprogramme für Krankenhäuser zur Verfügung stellt, der braucht keine Krankenhausreform mehr, und der wird vor dessen Umsetzung massenweise Insolvenzen und Klinikschließungen erleben.“ Die Aktionsgruppe beklagt: „Diese Mangelwirtschaft dient weiteren Klinikschließungen.“

„Herr Bundeskanzler Olaf Scholz, Herr Bundesfinanzminister Christian Lindner: Der Bundeshaushalt 2024 ist ein Anschlag auf die Gesundheit der Ihnen anvertrauten Bevölkerung und ein Anschlag auf das engagierte Klinikpersonal. Haben Sie den hervorragenden Einsatz der Krankenhäuser in der Pandemie vergessen?“