9. Mai 2020: Kundgebung und Appell für ein solidarisches Europa

Europa am Neckar 1944/45: 75 Jahre Befreiung – 70 Jahre Europa-Erklärung

Aufgrund der Corona-Pandemie mussten dieses Jahr geplante Feiern zum 75. Jahrestag der Befreiung von Häftlingen der KZ-Außenlager in Baden-Württemberg ausfallen. Stattdessen lud die KZ-Gedenkstätte Neckarelz für den Abend des 9. Mai zu einer Kundgebung auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Neckarelz ein. Die Behörden hatten eine Beschränkung der Zahl der Teilnehmer*innen verfügt, sodass sich nur fast 30 Leute einfanden.

Hier die beiden Redebeiträge vollständig.

Der stellvertretende Vereinsvorsitzende Arno Huth ging in seinem Redebeitrag auf die Situation der 5.400 Häftlinge ein, welche die KZ-Außenlager in Neckarelz und Neckargerach durchlaufen hatten. Es waren Menschen aus über dreißig Ländern Europas. Die Haftbedingungen führten dazu, dass es nur sehr eingeschränkt eine übernationale und praktisch kaum eine gesamteuropäische Solidarität der Verdammten und Gequälten gab. Trotzdem oder vielleicht auch gerade wegen den Erfahrungen von Lageralltag, Krieg, Tod und Unmenschlichkeiten begannen sich manche Häftlinge irgendwann nach dem Krieg zu engagieren, sich mit Schülern und in transnationalen Begegnungen auszutauschen, sich für als europäisch angesehene Ideale einzusetzen, um damit auch zu einem dauerhaften europäischen Zusammengehörigkeitsgefühl und Frieden beizutragen.

Befreiungsfeier am 15. April 1945 im Displaced-Persons-Lager in Mosbach von befreiten Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen, Männer und Frauen. Ein ehemaliger KZ-Häftling hält eine Ansprache (Foto: Allan G. Smith, National Archives College Park Box 62 203573-S).

Arno Huth rief aber auch dazu auf, inmitten der Corona-Krise und angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Lockdowns nicht die marginalisierten und gefährdeten Menschen außerhalb der Weltmetropole zu vergessen. Auch dies sollte zu einem Europa gehören, das nicht nur mit sich selbst solidarisch ist. Er befürchtet, dass dieses Mal die Krise schon bestehendes Elend weiter verschärfen und zu Millionen von zusätzlichen Hungertoten weltweit führen könnte. „Tagelöhner, Wanderarbeiter, Kleinhändler, Slumbewohner, Niedriglöhner, Obdachlose und andere – Männer und Frauen – viele Menschen und ihre Familien in diesen Ländern leben von heute auf morgen, sind nicht oder nicht ausreichend wirtschaftlich und sozial abgesichert, und können sich keine Überlebensvorräte anlegen. In einer globalisierten Welt sind wir in Europa und in anderen Metropolen für sie und ihr Überleben oder ihr Sterben zumindest auch mitverantwortlich.“

Als Zeichen der Solidarität spendeten Teilnehmer*innen der Kundgebung 250 Euro für „medico international„, die vor allem Basisgesundheitsinitiativen in aller Welt – auch während der globalen Corona-Krise – unterstützt.

Die Vereinsvorsitzende Dorothee Roos rief wenige wichtige Stationen des europäischen Einigungsprozesses ins Gedächtnis, wies aber auch darauf hin, dass dieser durch den Kalten Krieg und der Spaltung der Welt in zwei Blöcke überlagert wurde. Am 9. Mai 1950 (vor genau 70 Jahren) hatte der französische Außenminister Robert Schuman aufgerufen, in wichtigen Ländern die Produktion von Kohle und Stahl zu vergemeinschaften. Das war die Gründungsstunde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Dorothee Roos erläuterte die Bedeutung dieser „Montanunion“. Die Vergemeinschaftung der Schwerindustrien Kohle und Stahl sollte in Zukunft Krieg zwischen den beteiligten Staaten verhindern. „Die Idee der Vergemeinschaftung, des Zusammenschlusses, der gemeinsamen Verantwortung war nach dem Krieg eine starke Idee, weil die meisten Staaten erkannt hatten, dass Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus in zwei furchtbare Kriege geführt hatten. Also Ideologien, die auf Vorstellungen von Ungleichheit und Ausgrenzung nach innen, aber eben auch nach außen aufgebaut sind, die auf Grenzziehung, auf Überlegenheitsgefühl beruhen. Nun wollte man es anders machen, man setzte man auf Multilateralität, gründete Organisationen in großer Zahl, die sich Statuten gaben, die von allen gebilligt und geteilt wurden.“ Mit der Gründung der UNO 1948 und des Europarates 1949 wurden gleichzeitig Menschenrechtserklärungen verabschiedet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich aber auch die Frage nach dem Umgang mit dem besiegten Deutschland. Dorothee Roos zeigte anhand von verschiedenen Beispielen auf, wie die Länder über ihren Schatten sprangen, Großzügigkeit und die Bereitschaft zum Neuanfang zeigten. Sie warnte aber auch vor einer tiefen Krise in der europäischen Einigungsbewegung in den letzten 10 Jahren: „Es gibt Tendenzen der Re-Nationalisierung in praktisch allen Ländern, verbunden mit wachsendem Antisemitismus und dem Erstarken rechtsextremer Bewegungen. … Es gibt eine Spaltung, die eher zwischen Ost und West verläuft und mit dem schwierigen Erbe der alten Teilung in Blöcke zu tun hat. Und es gibt eine Spaltung zwischen den Nord- und den Südländern, die mit finanziellen Problemen, der Bankenkrise, der Frage der Verschuldung und den Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer zu tun hat. Was man ebenfalls nicht unterschätzen darf, ist die Tatsache der deutschen Dominanz in Europa, die wir nicht wahrnehmen, weil wir nicht von außen auf uns selber blicken.“ Die Coronakrise bedrohe auch die europäischen Länder existentiell.“ Dorothee Roos sieht die Gefahr, dass Europa auseinanderfallen könnte und appelliert an Deutschland verantwortungsvoll angesichts der Corona-Krise zu handeln, denn: „Die meisten unserer europäischen Partner und Freunde haben weitaus schlechtere Bedingungen für einen Neustart.“

„Demokratie, Menschenrechte, Pressefreiheit, Ökologie in Europa – es wird sie nur geben oder wieder geben, wenn nicht die Europafeinde, die Nationalisten und Verschwörungstheoretiker Wahlen gewinnen.“ Abschließend nahm Dorothee Roos den Gedanken der Großzügigkeit auf, wie ihn der Franzose Albert Fäh (Widerstandskämpfer und Überlebender des KZ Neckarelz) 1976 in Dachau zu Jugendlichen geäußert hatte: „Die einzige Chance für das Überleben unserer Welt, junge Freunde, seid Ihr, die Ihr sie in den Händen haltet. Die einzige Chance für die Welt ist, dass schnell ein geeintes Europa entsteht, ein starkes Europa, ein großzügiges Europa. Ein Europa, das mit 300.000.000 Einwohnern technologisch und industriell eine der stärksten Mächte der Welt ist. Ein Europa, das durch den Willen einer Gruppe unabhängiger Staaten entstanden ist. Ein solidarisches Europa, nicht ein Europa der Märkte und der Spekulanten. Ein Europa der Länder, die unglaublich gelitten und sich gegenseitig zerrissen haben, ein neues Europa, das mit Herz und Verstand gegründet wurde.“

Im Anschluss verabschiedeten die Teilnehmer*innen der Kundgebung einstimmig einen „Appell für ein solidarisches Europa“, der unter anderem der Bundesregierung übermittelt werden soll:

Wir stehen heute hier auf dem Boden des Appellplatzes eines Konzentrationslagers, auf dem sich zwischen März 1944 und März 1945 jeden Tag 1.000 Gefangene aus 30 Ländern Europas zwangsweise aufstellen mussten.

Wegen der Corona-Pandemie sind wir nur wenige. Wir sehen, dass das gemeinsame Europa, das in den 75 Jahren seit dem Kriegsende aufgebaut wurde, hier und heute in existentielle Gefahr geraten ist, nicht nur, aber auch durch Corona. Deutschland ist gefordert wie nie zuvor, es muss sich bewegen, wenn die Europäische Union eine Zukunft haben soll.

Deutschland hat nach dem Krieg von den Ländern Europas viel Großzügigkeit erfahren, vor allem ideelle, aber auch materielle.

Jetzt muss es diese Großzügigkeit zurückgeben und den berechtigten Forderungen unserer Nachbarn und Partner Frankreich, Italien, Spanien und anderer entgegenkommen. Die Folgen der Krise müssen gemeinsam getragen und gemeistert werden, mit Mut, Kreativität und einer neuen Vision vom Leben im gemeinsamen Haus Europa.

Wir wollen und wir fordern ein Europa der Solidarität!

Abschließend sangen die Teilnehmer*innen die Europahymne „Ode an die Freude“, musikalisch am Klavier begleitet von Rupert Laible.