Appell für ein solidarisches Europa
Die TeilnehmerInnen der Kundgebung „Europa am Neckar 1944/45 75 Jahre Befreiung – 70 Jahre Europa-Erklärung“ verabschiedeten am Samstag, dem 9. Mai 2020 gemeinsam den folgenden Appell für ein solidarisches Europa:
Wir stehen heute hier auf dem Boden des Appellplatzes eines Konzentrationslagers, auf dem sich zwischen März 1944 und März 1945 jeden Tag 1000 Gefangene aus 30 Ländern Europas zwangsweise aufstellen mussten.
Wegen der Corona-Pandemie sind wir nur wenige. Wir sehen, dass das gemeinsame Europa, das in den 75 Jahren seit dem Kriegsende aufgebaut wurde, hier und heute in existentielle Gefahr geraten ist, nicht nur, aber auch durch Corona. Deutschland ist gefordert wie nie zuvor, es muss sich bewegen, wenn die Europäische Union eine Zukunft haben soll.
Deutschland hat nach dem Krieg von den Ländern Europas viel Großzügigkeit erfahren, vor allem ideelle, aber auch materielle.
Jetzt muss es diese Großzügigkeit zurückgeben und den berechtigten Forderungen unserer Nachbarn und Partner Frankreich, Italien, Spanien und anderer entgegenkommen. Die Folgen der Krise müssen gemeinsam getragen und gemeistert werden, mit Mut, Kreativität und einer neuen Vision vom Leben im gemeinsamen Haus Europa.
Wir wollen und wir fordern EIN EUROPA DER SOLIDARITÄT!
Arno Huth: Über die Schwierigkeiten der Solidarität im KZ Neckarelz. Für weltweite Solidarität.
Rund 5.400 KZ-Häftlinge durchliefen die KZ-Außenlager in Neckarelz und Neckargerach. Es waren Menschen aus allen Richtungen Europas und darüber hinaus.
Die fast 3.100 Häftlinge, die sich gegen Ende März 1945 zum Zeitpunkt der Auflösung noch in den Neckarlagern befanden hatten, wurden an verschiedenen Orten befreit: vielleicht zwischen 20 und 50 Häftlinge befreiten sich durch Flucht, beispielsweise konnten sich hier vier Häftlinge mit Unterstützung der Hausmeisterfamilie der Schule bis zur Befreiung am 1. April verstecken. Zwischen Osterburken und Adelsheim wurden um den 4. April rund 850 Häftlinge des Krankentransportzuges befreit, der aufgrund zerstörter Schienenwege nicht mehr nach Dachau durchgekommen war. Über 2.200 Häftlinge der Neckarlager mussten drei Nächte lang zu Fuß bis nach Schwäbisch Hall marschieren, bevor sie ein Transportzug zum KZ Dachau brachte. Die meisten von ihnen überlebten und wurden Ende April beziehungsweise Anfang Mai 1945 im KZ Dachau oder auf dem Dachauer Todesmarsch in Richtung Alpenfestung befreit. Viele hatten nur noch zwischen 30 und 40 Kilogramm Körpergewicht.
Während wir heute am 8. und 9. Mai doch noch den 75. Jahrestag der Befreiung Europas vom Faschismus feiern können, dürfen wir aber auch nicht vergessen, dass mindestens jeder Vierte von den 5.400 Häftlingen der Neckarlager seine Heimat nicht mehr lebend wiedersehen konnte. Sie starben in den Lagern, bei der harten Zwangsarbeit auf den Baustellen, nach ihrer Überstellung in andere Konzentrationslager, während der Evakuierungen oder in den Wochen und Monaten nach ihrer Befreiung.
Die Häftlingsgesellschaft in den Neckarlagern umfasste Menschen aus rund dreißig Herkunftsländern. Obwohl die große Mehrheit von rund 90 Prozent sogenannte „Politische Häftlinge“ waren, gab es nur sehr eingeschränkt eine übernationale und praktisch kaum eine gesamteuropäische Solidarität der „Verdammten“ und Gequälten. Verschiedene nationale Identitäten und sprachliche Hürden erschwerten eine Verständigung. Und auch innerhalb einer Häftlingsnation konnte es zu Misstrauen, Spaltungen und Abneigungen kommen beispielsweise aufgrund verschiedener politisch-ideologischer Zugehörigkeiten wie Sozialisten gegen Nationale usw. Knappheit und Hunger führte nicht unbedingt dazu, dass gleich oder je nach Bedürftigkeit geteilt wurde: im Gegenteil, oft wurden Lebensmittel für die eigene nationale Gruppe unterschlagen. Die eigenen wurden bei der Essensverteilung, bei der Aufnahme ins Krankenrevier, beim Einteilen zu weniger harten Arbeitskommandos und so weiter bevorzugt. Viele fürchteten die Zuweisung zu einem Arbeitskommando oder einer Schlafstube, in welcher sie die einzigen mit ihrer Nationalität oder eine kleine Minderheit waren.
Auch das perfide System der sogenannten „Häftlingsselbstverwaltung“ förderte die Entsolidarisierung: die SS-Lagerführung setzte ihr Rechenschaft pflichtige meist deutschsprachige Funktionshäftlinge ein: Lager-, Block- und Stubenälteste sowie Kapos – eine Quelle übersetzte den Begriff „Kapo“ auch als „Kameradschaftspolizei“. Diese hatten die Aufgabe, für Disziplin im Lager zu sorgen, ihre Mithäftlinge zu kontrollieren, bei der Arbeit anzutreiben und zu bestrafen. Dadurch entstand in den Stuben und bei der Arbeit eine Atmosphäre der Angst und des gegenseitigen Misstrauens, während sich gleichzeitig die SS-Lagerverwaltung das Bewachen erleichterte.
Solidarität beschränkte sich zumeist auf die eigene nationale oder noch enger politisch-nationale Bezugsgruppe. Um die Besetzung der Funktionsposten wie Älteste, Kapos und Lagerdienste gab es manchmal heftige Auseinandersetzungen zwischen den Nationen oder den politischen Häftlingen mit dem roten Winkel und den kriminellen mit dem grünen Winkel.
Wegen dieser Spaltungen spielten direkte Freund- oder Kameradschaften im KZ eine wichtigere Rolle: gegenseitige Hilfe, sich gegenseitig trösten, ermutigen und stärken, das Teilen von organisierten Lebensmitteln, dem anderen eine Last bei der Arbeit abzunehmen, um ihn vor dem Zusammenbruch zu bewahren, das Verstecken eines Kranken bei der schweren Arbeit, den erschöpften Kameraden oder sich gegenseitig stützen, sich ablenken von den Qualen und vieles mehr.
Trotzdem oder vielleicht auch gerade wegen den Erfahrungen von Lageralltag, Krieg, Tod und Unmenschlichkeiten begannen sich manche Häftlinge irgendwann nach dem Krieg zu engagieren, sich mit Schülern und in transnationalen Begegnungen auszutauschen, sich für heutige, als europäisch bezeichnete Ideale einzusetzen – für Versöhnung, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenrechte, Freiheit und Demokratie. Diese sollten die Voraussetzungen für ein europäisches Zusammengehörigkeitsgefühl und Frieden schaffen, sodass ein Krieg innerhalb von Europa auch langfristig unmöglich werde.
Manche dieser Hoffnungen wurden durch die Realitäten nach dem Zweiten Weltkrieg auch enttäuscht: etwas ernüchtert schrieb Zacheusz Pawlak, der in den KZ Majdanek, Wesserling, Neckarelz und Dachau gefangen war, 1979 in seiner Autobiografie „Ich habe überlebt…“: „Die an der Menschheit begangenen Verbrechen werden die Gemüter und Herzen der Welt so stark erschüttern, dass sie nie wieder ein neues Massaker, das den Namen Krieg trägt, zulassen werden! Ja, ich habe stark daran geglaubt…“
Zacheusz Pawlak äußerte damit Erwartungen, die über die Europäische Union und Europa hinausgingen und sich allgemein auf die Menschheit bezogen. Auch wenn wir am heutigen Europatag auf dem ehemaligen Appellplatz des KZ Neckarelz für Zusammenhalt und Solidarität in Europa eintreten, möchte ich den Blick auch über den Tellerrand Europas hinaus richten. Inmitten der Corona-Krise und angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Lockdowns dürfen wir auch die marginalisierten und gefährdeten Menschen außerhalb der Weltmetropole nicht vergessen. Auch dies sollte zu einem Europa gehören, das nicht nur mit sich selbst solidarisch ist.
Bei der Weltfinanzkrise 2007 bis 2009 war laut der Welternährungsorganisation FAO die Zahl der hungernden Menschen um rund 100 Millionen auf wieder insgesamt 1 Milliarde Menschen angestiegen, womit jahrelange Anstrengungen erst einmal zunichte waren. Dieses Mal könnte die Krise noch heftiger ausfallen, sich schon bestehendes Elend weiter verschärfen und zu Millionen von zusätzlichen Hungertoten weltweit führen. Tagelöhner, Wanderarbeiter, Kleinhändler, Slumbewohner, Niedriglöhner, Obdachlose und andere – viele Menschen und ihre Familien in diesen Ländern leben von heute auf morgen, sind nicht oder nicht ausreichend wirtschaftlich und sozial abgesichert, und können sich keine Überlebensvorräte anlegen. In einer globalisierten Welt sind wir in Europa und in anderen Metropolen für sie und ihr Überleben oder ihr Sterben zumindest auch mitverantwortlich.
Dorothee Roos, 9. Mai 2020, ehemaliger Appellplatz des KZ-Außenlagers Neckarelz: Großzügigkeit in Europa gefordert
Liebe Teilnehmende unserer Kundgebung,
Sie haben ja auf dem Programm gelesen, dass wir auch einige Worte zum europäischen Einigungsprozess sagen wollen. Keine Angst – es soll keine Geschichtsstunde werden, die sich im Aufzählen von Gründungsdaten, von Verträgen oder Institutionen erschöpft. Vielmehr möchte ich nur wenige wichtige Stationen aus den 40er und 50er Jahren ins Gedächtnis rufen, die man nicht so im Kopf hat. Dabei ist klar, dass der Prozess beim genaueren Hinsehen ziemlich kompliziert ist. Der europäische Einigungsprozess wurde von Anfang an durch den Kalten Krieg und der Spaltung der Welt in zwei Blöcke überlagert. Deshalb ist alles, was ich jetzt sage, vereinfacht und ein bisschen holzschnittartig.
Wir haben ja in unserer Einladung ein wichtiges Datum ausdrücklich erwähnt, das ist die Erklärung des französischen Außenministers Robert Schuman vom 9. Mai 1950, also genau heute vor 70 Jahren. Er hat an diesem Tag dazu aufgerufen, in wichtigen Ländern die Produktion von Kohle und Stahl künftig zu vergemeinschaften. Das war die Gründungsstunde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, auch Montanunion genannt. Wir haben das in der Schule mal gelernt und fanden es langweilig. Weil uns meist keiner erklärt hat, welche ungeheure Bedeutung eine solche Idee im Jahr 1950 hatte : Kohle und Stahl – das ist die Schwerindustrie, die Rüstung und Krieg ermöglicht. Das Angebot von Robert Schumans wendete sich vor allen Dingen an Deutschland, obwohl auch die Benelux-Länder und Italien im Boot waren. Und Schumans Idee war das Gegenteil dessen, was Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg immer gefordert hatte – nämlich die deutsche Schwerindustrie möglichst klein zu halten, zu kontrollieren, abzuwürgen. Hitlers Aufstieg verdankte sich nicht zuletzt seiner Propaganda gegen den sogenannten „Schandvertrag von Versailles“. Nun also das Gegenteil: ein Angebot zur Vergemeinschaftung, die sogar mehr war als Partnerschaft. Denn sie bedeutete, dass alle, die sich darauf einließen, auf ein Stückchen Souveränität verzichteten. Dafür wurde das Wort „supranational“ erfunden.
Die Idee der Vergemeinschaftung, des Zusammenschlusses, der gemeinsamen Verantwortung war nach dem Krieg eine starke Idee, weil die meisten Staaten erkannt hatten, dass Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus in zwei furchtbare Kriege geführt hatten. Also Ideologien, die auf Vorstellungen von Ungleichheit und Ausgrenzung nach innen, aber eben auch nach außen aufgebaut sind, die auf Grenzziehung, auf Überlegenheitsgefühl beruhen. Nun wollte man es anders machen, man setzte man auf Multilateralität, gründete Organisationen in großer Zahl, die sich Statuten gaben, die von allen gebilligt und geteilt wurden.
Die Staaten, die das vorantrieben, waren zunächst im Wesentlichen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, das heißt, im Grunde die ganze Welt- außer Deutschland und Japan. Bei der Gründung der UNO 1948 war die Sowjetunion noch im Boot, die Gründung des Europarates ein Jahr später betrieben dann 10 west- und nordeuropäische Staaten, denen aber rasch, nämlich schon 1949 Griechenland und die Türkei beitraten; heute gehören dem Europarat 47 Länder an, also viel mehr als der EU. Beide Gründungen verabschieden gleichzeitig eine Menschenrechtscharta. Diese Menschenrechtserklärungen wurden oft Personen vorangetrieben worden, die selbst die Erfahrung der Entrechtung in Hitlers Lagern gemacht hatten.
Die Länder, die sich in den verschiedenen Gemeinschaften zusammenschlossen, standen alle vor der Frage: wie umgehen mit Deutschland, das ja den Krieg entfesselt hatte? Oder, genauer gesagt, der Bundesrepublik Deutschland, die sich zur Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches erklärt hatte? Die Zeichen standen hier ganz klar auf Integration, auf Einbindung und Partnerschaft. Allerdings enthält auch eine solche Partnerschaft ja durchaus auch ein Element von Kontrolle, das ist klar. Weder Winston Churchill, der als erster 1946 ein Vereinigtes Europa vorgeschlagen hatte, noch Robert Schuman noch später Charles de Gaulle waren naive Gutmenschen. Wichtig war aber, dass diese Kontrolle eben wechselseitig war, dass sie auf Verhandlungen und auf Kompromiss setzte. Und trotzdem ist es in gewisser Weise ein Wunder, dass die Länder Europas dazu bereit waren. Wie gesagt, hängt dabei vieles mit der Spaltung in Blöcke zusammen, doch ist das nicht die einzige Erklärung. Die Länder sprangen über ihren Schatten, zeigten Großzügigkeit und die Bereitschaft, neu anzufangen.
Dabei hatten alle unter dem Krieg, der Besatzung oder dem Diktat Nazideutschlands gelitten. In der Idee der Gemeinschaft steckte nicht nur die Hoffnung auf Erhaltung des Friedens, sondern auch auf wirtschaftlichen Wiederaufstieg. Allerdings war dazu zunächst mal ein großzügiger Schnitt notwendig, das heißt die Bereitschaft, auf ältere finanzielle Forderungen zu verzichten. Das Londoner Schuldenabkommen von 1953 brachte eine erhebliche Reduzierung der deutschen Auslandsschulden. Treibende Kraft waren die USA, die gegenüber den europäischen Ländern auf die Rückzahlung der Mittel des Marshallplans verzichteten. Aber die USA brachten auch die europäischen Gläubiger Deutschlands dazu, ihre Forderungen zu halbieren, nämlich von 26 auf 13 Milliarden Mark. Ziel war es, Deutschland trotz Abtragung der Altschulden Luft zum Atmen zu lassen – das deutsche Wirtschaftswunder verdankt sich nicht nur, aber auch dieser Großzügigkeit.
Worauf die Länder, die unter der deutschen Besatzung gelitten hatten jedoch völlig verzichteten, das waren Reparationen, d.h. ein Ersatz der Kriegsschäden. Auch das eine Lehre aus dem Ersten Weltkrieg. Sie verzichteten quasi stillschweigend. Die Reparationsfrage wurde nämlich einem künftigen Friedensvertrag überlassen, von dem alle wussten, dass er – eben wegen der Spaltung der Welt in Blöcke – erstmal nicht kommen würde.
Bei all dem muss man sich klarmachen, dass Hitler seinen Raubkrieg durch die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten oder abhängigen Länder finanziert hatte. Der Historiker Götz Aly schätzt die Summe, die Deutschland aus den besetzten, z.T. auch kollaborierenden Ländern innerhalb von 6 Jahren herausholte, auf gigantische 138 Milliarden Reichsmark. Die Länder, die gemäß ihrer Wirtschaftskraft dabei am meisten bluten mussten, waren Frankreich mit 40 Milliarden, die Niederlande mit 14 Milliarden, Belgien mit 11 Milliarden, Italien mit 10 Milliarden. Alle anderen europäischen Länder liegen unter 10 Milliarden. Und, siehe da, es sind genau die Gründungsländer der Montanunion, aus der später die EWG, und mit fortschreitender Aufnahme neuer Länder, die EG und schließlich die EU wurden. Das war damals, in den 50er Jahren, ein Wagnis, eine Zumutung für viele Menschen in diesen Ländern.
Ganz sicher gibt es auch hier in unserem Kreis unterschiedliche Auffassungen darüber, ob man die Entwicklung der EU über die verschiedenen Stufen bis heute als eine Erfolgsgeschichte ansieht. Vielleicht kommt man zu unterschiedlichen Meinungen, je nachdem, ob man die Wirtschaft, den Sozialbereich, die Kultur, die Frage der demokratischen Kontrolle oder die Grenzfragen und die globalen und ökologischen Auswirkungen des europäischen Wohlstands betrachtet. Dennoch ist dieses Europa ohne Grenzen, mit viel Austausch, Handel und Wandel, mit Regelungen und Standards, mit der Menschenrechtscharta und einer einigen zentralen Grundwerten, auf die sich alle Ländern verständigt haben, für eine Mehrheit der 500 Millionen BürgerInnen ein gemeinsames Haus geworden, in dem sich gut wohnen lässt.
Auch, wenn man das eigentliche Ziel der Vergemeinschaftung in Europa anschaut, nämlich die Wahrung des Friedens, dann war es tatsächlich eine Erfolgsgeschichte. Man braucht nur die 75 Jahre zwischen 1870 und 1945 mit denen zwischen 1945 und 2020 zu vergleichen. Den Kern dieses friedlichen Miteinanders bildet die deutsch-französische Aussöhnung und Freundschaft – auch das ein Wunder nach langer „Erbfeindschaft“. Natürlich ist das alles nicht bloß der Erfolg der EU – der Europarat wurde schon erwähnt, in den 70er und 80er Jahren hat die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa viel an Entspannung und Verständigung in einer gespaltenen Welt und ermöglicht und tut das, z.B. an der ukrainisch-russischen Grenze, bis heute.
Doch in den letzten 10 Jahren ist eine Krise festzustellen, die tiefer geht als bisherige Dellen in der europäischen Einigungsbewegung. Es gibt Tendenzen der Re-Nationalisierung in praktisch allen Ländern, verbunden mit wachsendem Antisemitismus und dem Erstarken rechtsextremer Bewegungen. Auffällig ist, dass eine militante Europa-Feindschaft die sehr unterschiedlichen Bewegungen verbindet.
Es gibt eine Spaltung, die eher zwischen Ost und West verläuft und mit dem schwierigen Erbe der alten Teilung in Blöcke zu tun hat. Und es gibt eine Spaltung zwischen den Nord- und den Südländern, die mit finanziellen Problemen, der Bankenkrise, der Frage der Verschuldung und den Flüchtlingsströmen über das Mittelmeer zu tun hat. Was man ebenfalls nicht unterschätzen darf, ist die Tatsache der deutschen Dominanz in Europa, die wir nicht wahrnehmen, weil wir nicht von außen auf uns selber blicken. Das wiedervereinigte Deutschland ist das bei weitem bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land, das auch vom Euro und den Handelsströmen der Globalisierung am meisten profitiert. Ohne Deutschland geht nichts in Europa, und vieles wird kritisch gesehen, z.B. unser extremer Exportüberschuss oder der enorm hohe Preis der „Rettung“ Griechenlands.
Die Coronakrise verschärft nun die Krise, die vorher schon da war. Sie bedroht alle Länder der Erde, sie bedroht auch die europäischen Länder existentiell. Die Gefahr, dass Europa auseinanderfallen könnte, dass auch große Länder einfach abgehängt werden könnten, weil sie wirtschaftlich nicht mehr auf die Beine kommen, steht plötzlich vor der Tür. Es ist die größte Herausforderung seit der Weltwirtschaftskrise oder seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als Europa in Trümmern lag. Anders als damals in von den USA keine Hilfe zu erwarten. Damit wächst die Verantwortung Deutschlands. Es liegt mit an uns, ob Europa diese Krise überstehen kann. Wir sind nicht mehr die Besiegten, die am Boden liegen und Hilfe brauchen. Wir sind die Starken, die Stärksten sogar, eines der reichsten Länder der Erde überhaupt. Und, nicht zuletzt, sind wir bisher ziemlich gut durch die Krise gekommen, auch wenn sich bei uns viele Unternehmen und Firmen berechtigte Sorgen machen. Die meisten unserer europäischen Partner und Freunde haben weitaus schlechtere Bedingungen für einen Neustart.
Dieser Verantwortung muss Deutschland nun gerecht werden – mit solidarischer Hilfe, die nicht vom kurzfristigen Eigeninteresse diktiert ist. Dabei geht es nicht oder nicht nur um die Frage „Coronabonds ja oder nein“. Es geht darum, nicht einfach die alten Rezepte, die sogenannten bewährten Instrumente, anzuwenden, sondern den Mut zu haben, Europa neu zu denken. Dabei kann man viele Werte aufzählen, um die es geht, die bewahrt oder neu belebt werden müssen. Doch die Solidarität muss dabei ganz groß geschrieben werden, Hilfe der Starken für die Schwachen, auch Hilfe ungewöhnlicher, nie dagewesener Art. Es müssen intelligente, kreative Hilfen gefunden werden, die nicht abhängig und klein, sondern stark machen. Die Hilfen sollen wieder Vertrauen wecken in die eigene Kraft, so wie Deutschland das nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren hat. Wenn wir das nicht tun, dann werden andere in die Bresche springen – China steht schon bereit, aber auch andere Großmächte freuen sich über einen Niedergang Europas. Es ist nicht von egoistischem, sondern von allgemeinem Interesse, dass Europa nicht zerfällt. Demokratie, Menschenrechte, Pressefreiheit, Ökologie in Europa – es wird sie nur geben oder wieder geben, wenn nicht die Europafeinde, die Nationalisten und Verschwörungstheoretiker Wahlen gewinnen.
Ehe ich zu unserem Appell übergehe, möchte ich noch einen französischen Überlebenden des KZ Neckarelz zitieren. Albert Fäh, Franzose mit Schweizer Wurzeln, Widerstandskämpfer (1922 – 2007) sagte 1976 in Dachau zu dort versammelten Jugendlichen:
„Die einzige Chance für das Überleben unserer Welt, junge Freunde, seid ihr, die ihr sie in den Händen haltet. Die einzige Chance für die Welt ist, dass schnell ein geeintes Europa entsteht, ein starkes Europa, ein großzügiges Europa. Ein Europa, das mit 300.000.000 Einwohnern technologisch und industriell eine der stärksten Mächte der Welt ist. Ein Europa, das durch den Willen einer Gruppe unabhängiger Staaten entstanden ist. Ein solidarisches Europa, nicht ein Europa der Märkte und der Spekulanten. Ein Europa der Länder, die unglaublich gelitten und sich gegenseitig zerrissen haben, ein neues Europa, das mit Herz und Verstand gegründet wurde.“
Er schloss damals seine Rede mit den Worten: „Vive la Résistance! Vive la France généreuse! Vive l’Europe des hommes de demain.“ Also: „Es lebe der Widerstand ! Es lebe das großzügige Frankreich ! Es lebe das Europa der Menschen von morgen!“
In unserem Appell ersetzen wir nun das „großzügige Frankreich“ durch „das großzügige Deutschland“ …