„Im Sammeltransport nach unbekannter Anstalt verlegt“

Buchvorstellung: Opfer der NS-„Euthanasie“ aus der Stadt Buchen

„Im Sammeltransport nach unbekannter Anstalt verlegt“ heißt das Gedenkbuch für die Opfer der sogenannten Euthanasie aus der Stadt Buchen während des Nationalsozialismus, welches am Montag, 20. September 2021 im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung in der Stadthalle Buchen vorgestellt wurde. Als Begleitprogramm war im Foyer die Wander-Ausstellung „Grafeneck 1940 – Geschichte und Erinnerung“ der Gedenkstätte Grafeneck zu besichtigen. Sie kann noch bis 17. Oktober im Foyer des Rathauses in Buchen angeschaut werden. Musikalisch umrahmt wurde das Programm mit fünf Stücken, dargeboten von Maria Westermann am Klavier.

Bürgermeister Roland Burger begrüßte die Teilnehmer und gab Artikel 1 des Grundgesetzes als Maßstab für die Beurteilung dieser Geschichte vor: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Er wies darauf hin, dass diese Forderung täglich mit Füßen getreten werde; beispiellos sei aber die Tötungsmaschinerie der Nationalsozialisten unter dem Stichwort „unwertes Leben“ gewesen, welcher auch mindestens achtzehn Menschen aus Buchen zum Opfer gefallen waren. Den Begriff „Euthanasie“ charakterisierte Burger als Euphemismus: es war alles andere als ein „schöner Tod“. Den Opfern wurde die Menschenwürde abgesprochen, sie wurden entindividualisiert und einem Massenverbrechen zugeführt. Die Morde geschahen geräuschlos und auch danach wurde nicht darüber gesprochen. Das Buch entreißt ihr Schicksal aus der Anonymität. Die Namen der Opfer werden auch in der Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus in den Überresten der ehemaligen Synagoge in Buchen ergänzt. Burger dankte Dr. Hans-Werner Scheuing als Impulsgeber für diese Arbeit, der Basismaterial für die Recherchen lieferte. (Scheuing ist Autor des Buches „Als Menschenleben gegen Sachwerte gewogen wurden. Die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof und ihrer Bewohner 1933-1945″). Initiatorin für den Arbeitskreis in Buchen war dann Ingrid Landwehr.

Der Landrat des Neckar-Odenwald-Kreises Dr. Achim Brötel zeigte sich erfreut über die Resonanz der Veranstaltung, an der rund 80 Leute teilnahmen. Er lobte die Qualität des Bandes. Die Grundgesetz-Forderung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde sei ein Bekenntnis für eine bessere Zukunft und lasse keine andere Deutung zu: „Jeder Mensch ist wertvoll, weil er ein Mensch ist.“ Die Nazis wollten jedoch eine neue Menschenrasse, die gleichzeitig andere Menschen ausschloss. Die Aktion T4 war ein planmäßig vollzogener Mord an als geistig oder psychisch behinderten, aussortierten Menschen und sogenannten „Asozialen“. Damals wehrten sich nur wenige dagegen: Brötel erinnerte an die Predigt des Bischof von Galen am 3. August 1941, der die These, dass unproduktive Menschen ihr Lebensrecht verwirkt hätten, hinterfragte. Kurz darauf wurde das Mordprogramm dann formal beendet, jedoch durch Medikation und Unterernährung in Anstalten weitergeführt. Brötel drückte seine Anerkennung für die Erinnerungsarbeit aus und verwies auch auf das Gedenken an die 262 Euthanasie-Opfer der damaligen Behinderteneinrichtung in Mosbach und am Schwarzacher Hof, an die der neu eingeweihte Maria-Zeitler-Pfad in Mosbach erinnert, und an die Thematisierung (beim Kreishistorikertag 2019) der Deportation von 54 Insassen der Kreispflegeanstalt Krautheim am 17.10.1940 vor allem nach Grafeneck. Die Euthanasie-Opfer waren Jahrzehnte lang aus dem öffentlichen Gedenken ausgeklammert worden, bis der Bundestag sie im Jahr 2011 zu einer Aufgabe von nationaler Bedeutung erklärte. Brötel dankte der Autorengruppe des Buches, dass sie einen Teil ihrer Zeit den Opfern geschenkt hätten. Er rief zu Solidarität als gesellschaftlichem Schutzschirm für die Demokratie auf und zitierte abschließend den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan: „Alles was das Böse benötigt, um zu triumphieren, ist das Schweigen der Mehrheit.“

Thomas Stöckle, der Leiter der Gedenkstätte Grafeneck, warf ein paar Schlaglichter auf die Vernichtungsanstalt Grafeneck, wo die Mehrzahl der baden-württembergischen und bayerischen Euthanasieopfer ermordet worden war. Das idyllisch und abgelegene Schloss auf der Schwäbischen Alb wurde 1940 zum Ort eines Massenmordes an 10.654 Menschen. Das Verbrechen, für welches es keine gesetzliche Grundlage gab, sollte als „geheime Reichssache“ nicht publik werden. Die Zentrale der Aktion T4 lag in der Tiergartenstraße 4 in Berlin, die sechs große Euthanasie-Vernichtungsanstalten betrieb: in Grafeneck, Brandenburg, Bernburg, Hartheim/Linz, Sonnenstein und Hadamar. Um 1960 analysierte ein Strafrechtler die Aktion als staatliches, großes und arbeitsteiliges Verbrechen. Die Arbeitsteiligkeit, dass viele Täter damit befasst waren, ergab sich allein schon aus den Dimensionen: bezüglich Grafeneck wurden rund 10.000 Menschen aus 50 Einrichtungen ausgesucht, abtransportiert, ihre Personalien nochmals erfasst, bevor sie schließlich in einer improvisierten Gaskammer ermordet wurden. Die englische und amerikanische Geschichtsschreibung spricht von „killing center“. Der Zeitpunkt für den Mord, dass er nicht schon früher geschah, erklärt sich aus dem Beginn des Weltkriegs, denn unmittelbar danach, am 14. Oktober 1939 wurde der Ort dafür ausgewählt. Zurück geht die Idee der Euthanasie auf völkisch-biologistische Ideologie: Volk bzw. Rasse wurden als Wesen gedacht, denen die Menschen untergeordnet wurden. Das völkische Denken fragte weniger, wer gehört dazu, sondern vor allem danach, wer nicht dazu gehöre. Nach 1945 legte sich der „Mantel des Schweigens“ über diese Verbrechen, jedoch nicht ganz, denn bis 1949 wurden einige Prozesse geführt, jedoch relativ milde Urteile gefällt. Es gab praktisch keine Überlebenden, und wenn doch, haben sie sich nicht organisiert. Es fehlte eine Erinnerungskultur. Verwandte der Opfer fielen als Redende, als Zeugen aus. Das Gedenken und Erinnern heute ermöglicht, aus der Geschichte zu lernen, das Grundgesetz mit Leben zu erfüllen. Stöckle ermunterte abschließend zu einem Gedenkstättenbesuch in Grafeneck.

Stadtarchivar Jan Kohler stellte dann das Buch anhand von zwei exemplarischen Biografien vor und ging nochmals auf den historischen Hintergrund ein. Schon am 14. Juli 1933 wurde als Vorläufer das Sterilisationsgesetz zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ beschlossen, dem über 300.000 Männern und Frauen unterzogen wurden, davon vielleicht über 100 in Buchen wie Kohler schätzte. Die große Zustimmung dazu generierte eine Stimmung des Schweigens und erleichterte den nachfolgenden Massenmord. Die Erforschung der achtzehn Euthanasie-Opfer in Buchen erwies sich als schwierig, denn sie hinterließen kaum Spuren in der Erinnerung. Die Nazis wollten den Opfern ihre Existenz, ihre Individualität, ihre Besonderheit nehmen, während das Buch diese und ihre Würde wieder zurückgeben möchte.