„Shame on you, Europe!“

Seenotrettung im zentralen Mittelmeer

Eröffnung der Ausstellung „Angekommen“ von Thomas Bollmann

Am 21. Oktober 2019 wurde im ver.di-Bildungszentrum eine Fotoausstellung des Sassenburger Fotografen Thomas Bollmann eröffnet. Für die Fotoserie hat Bollmann Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland drei Jahre mit der Kamera begleitet. Auf seinen Bildern hat er bewusst auch glückliche Momente festgehalten, denn er möchte, dass man sie als Menschen wahrnimmt und nicht als Problem oder gar zur Bedrohung aufgebaute anonyme Masse oder Flut. Dies ist Bollmann auch gelungen, auch wenn er kein professioneller Fotograf ist, wie er einräumt. Ergänzt wird die Fotoausstellung durch einige wenige ausdrucksstarke Gemälde des geflüchteten syrischen Künstlers Majid Srayw… Weiterer Zweck der Ausstellung Bollmanns ist es, Spenden für Seenotrettung zu sammeln und natürlich in Deutschland für die Situation von Flüchtlingen zu sensibilisieren. Ein Ergebnis davon könnte sein, dass Städte sich zu sogenannten „Sicheren Häfen“ erklären und damit ihre Bereitschaft zur Aufnahme von im Mittelmeer geretteten Flüchtlingen bekunden. Bollmann nannte als Beispiel Neckarsulm. Die Ausstellung wird noch bis zum 19. November zu sehen sein.

Olaf Oehmichen zur zivilen Seenotrettung im zentralen Mittelmeer

Im Rahmen der Ausstellungseröffnung hielt Olaf Oehmichen einen Vortrag zur zivilen Seenotrettung im Mittelmeer. Die von ihm gezeigten Bilder und Videos von Einsätzen schockierten und erschütterten die etwa 25 Besucherinnen und Besucher. Wegen der Fülle an Informationen sind in diesem Veranstaltungsbericht vielleicht nicht alle Details seines Vortrags vollständig korrekt wiedergeben, was aber nichts an der humanitären Katastrophe ändert und die trotz des Wissens darüber in Kauf genommen wird.

Der Architekt Olaf Oehmichen aus der Gegend von Ludwigsburg ist seit 2017 ehrenamtlich als Seenotretter im zentralen Mittelmeer tätig. Nachdem seit Sommer 2018 mit der Beschlagnahme von Seenotrettungsschiffen begonnen wurde, findet das massenhafte Sterben nun wieder mehr im Verborgenen statt, was eine kritische Öffentlichkeit, Solidarisierung und zivile Seenotrettung unterdrücken soll. Es sollen keine flüchtigen Menschen mehr nach Europa gelangen. Die drei Hotspots, wo flüchtige Menschen auf dem Mittelmeer unterwegs sind, sind Türkei – Griechenland, Marokko – Spanien und im zentralen Mittelmeer Libyen – Italien. Oehmichen bezeichnet das Mittelmeer als tödlichste Außengrenze der Welt. 90 Prozent der Flüchtigen in Libyen stammen aus Ländern südlich der Sahara. Zahlreiche Menschen auf der Flucht sterben schon unterwegs zum Beispiel in der Wüste, bevor sie das Mittelmeer erreichen. Wer am Mittelmeer ankomme, für den gebe es kein Zurück mehr.

Zuständig und weisungsbefugt gegenüber der zivilen Schifffahrt im zentralen Mittelmeer ist die maritime Rettungsleitstelle in Rom. Die Sea-Eye leistete in der Regel erste Hilfe und Versorgung (zum Beispiel mit Rettungswesten), konnte aber auch aufgrund der Größe ihres Schiffs in der Regel keine Flüchtlinge an Bord nehmen, setzte daher einen Hilferuf an die Rettungsleitstelle ab und wartete, bis diese ein Schiff schickte. Alle Nichtregierungsorganisationen (NGOs) arbeiten nach internationalen Standards, weshalb es unverständlich sei, warum nun einige NGO-Mitglieder vor Gericht angeklagt werden. Erst seit etwa einem Jahr verfügt Sea-Eye mit der Alan Kurdi über ein größeres Schiff zur Seenotrettung. Bis 2018 machten zehn NGOs Einsätze; inzwischen seien es nur noch drei: Sea-Eye, pro activa open arms und Ärzte ohne Grenzen. Sie alle sind aufgrund der fehlenden staatlichen Seenotrettung aktiv und arbeiten freiwillig und ehrenamtlich.

Bisher geschahen die Rettungseinsätze aufgrund seiner Lage vor allem von Malta aus. Aus politischen Gründen muss Sea-Eye statt aus 300 Kilometer Entfernung nun vom 1.500 Kilometer entfernten Spanien handeln.

Sea-Eye hat als Einsatzbereich eine Fläche vergleichbar mit ganz Süd- und Südwestdeutschland. Wenn dort jemand den Pannendienst des ADAC benötigt, kommt dieser vielleicht in einer halben Stunde. Auf dem Meer haben Flüchtige jedoch kein Handynetz und sind beispielsweise auf Luftaufklärungsflugzeuge, Schiffe und andere Zuträger zum Auffinden ihrer Boote in Seenot angewiesen. Die Anfahrtszeiten betragen oft etwa fünf bis zehn Stunden; bis das Rettungsschiff dann an der angegebenen Stelle eintrifft, ist das Flüchtlingsboot manchmal nicht mehr da, muss gesucht werden und wird – wenn überhaupt noch – nicht selten erst nach Stunden gefunden.

Erschwert werden Rettungseinsätze auch durch die libysche Küstenwache. Innerhalb der 12-Meilen-Zone vor der Küste gilt staatliches Recht, in der 24-Meilen-Zone hat Libyen bestenfalls noch ein staatliches Kontrollrecht, ignoriert diese Tatsache jedoch auch über die 24-Meilen-Zone hinaus.

Nachdem Anfang Oktober 2013 binnen weniger Tage mehr als 600 Flüchtlinge im Mittelmeer ertranken, startete noch im selben Monat die italienische Operation Mare Nostrum, die ein Jahr später aber wieder eingestellt wurde, obwohl laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) Mare Nostrum rund 150.000 Menschen gerettet hatte. Die Operation kostete Italien rund 10 Millionen monatlich, die es ohne Unterstützung durch die EU und alleine aufbringen musste. Danach folgte ab Oktober 2014 die Operation Triton unter Führung der EU-Grenzagentur Frontex, die allerdings keinen offiziellen Rettungsauftrag besaß. Ähnlich die Operation Sophia bzw. EUNAVFOR MED seit Sommer 2015 (inzwischen ebenfalls eingestellt). Gegründet wurde die Operation Sophia von der EU zur Bekämpfung von Schleusern, war diesbezüglich aber ein völliger Fehlschlag.

Sea-Eye begann ursprünglich mit einem ehemaligen Kutter ohne jeglichen Komfort und für elf Mann Besatzung zugelassen. In der Regel wurden keine Flüchtlingen an Bord gelassen, sondern diese nur versorgt bis Rettungsschiffe eintrafen. Nur einmal bei ruhiger Seelage seien 280 Leute aufgenommen worden.

Anfangs waren vor allem kleine Holz-Fischerboote mit etwa 30 geflüchteten Menschen unterwegs, die theoretisch in Italien ankommen könnten, aber ohne Navigationsgeräte ausgestattet waren, unter Umständen zu wenig Sprit oder Motorschäden hatten oder denen libysche Fischer gewaltsam ihren Motor gestohlen hatten.

Nachdem viele solche Boote beschlagnahmt oder zerstört worden waren, sind heute oftmals total überladen bis zu 120 oder sogar 200 Leute auf größeren Schlauchbooten der chinesischen Marke Alibaba unterwegs. Laut Alibaba beträgt die offizielle Kapazität jedoch nur 30 bis 40 Mann. Oehmichen betonte, es sei noch nicht bekannt geworden, dass ein solches Schlauchboot ohne fremde Hilfe Europa erreicht hätte. Während einer solchen Fahrt drohe das Platzen von Schlauchkammern und der folgende Untergang des Bootes. Oftmals hatten die Bootsinsassen billige libysche Schwimmwesten gekauft, die aber völlig untauglich seien, da sie am Körper nicht fest anliegen würden und sich sogar mit der Zeit voll saugen und damit kontraproduktiv seien.

Rettungsaktionen laufen oft chaotisch und dramatisch ab. Es komme vor, dass während eines Rettungseinsatzes von der Rettungsleitstelle in Rom schon der nächste Anruf komme, dass dringend ein weiterer Rettungseinsatz an anderer Stelle notwendig sei. Meist sind die Boote auch so überfüllt, dass sie kaum oder nicht abgeschleppt werden können. Hilferufe werden abgesetzt und dann muss auf größere Schiffe gewartet werden, die möglichst über Hunderte Leute aufnehmen können. Sea-Eye musste einmal 8.000 Menschen innerhalb von vier Tagen versorgen. Oehmichen zeigt auch eine Situation, in der ein nahegelegenes Marineschiff der Operation Sophia um Hilfe angerufen wurde, diesen Notruf aber ignorierte und schließlich einfach abdreht.

Während der Rettungsaktionen kommt es oft noch zu weiteren Toten: Vielleicht sind schon Kammern des Schlauchbootes leck, Leute sind in Panik, in Todesangst und ungeduldig von den schon stundenlangen Strapazen auf dem Meer, es kommt zu gewaltsamen Szenen. Manchmal herrscht ein unerträglicher Lärm. In den Booten haben sich eindringendes Salzwasser, Erbrochenes, Fäkalien und Sprit zu einer giftigen Brühe vermischt, die Verätzungen auf der Haut verursacht und einen unerträglichen Geruch verursacht. Überladene Kähne drohen zu kippen, gerade wenn bei Rettungsaktionen alle Insassen auf eine Seite des Bootes wollen. Als Seawatch einmal 500 Leute eines Schiffes retten wollte und dieses kippte, hätten nur 35 überlebt. Geordnete Rettungsmöglichkeiten sind in solchen Situationen kaum möglich.

Oehmichen kommentiert eine Situation, als die Menschen endlich an Bord des Rettungsschiffes genommen worden waren und in dem voll laufenden Schlauchboot nur noch Unrat und Kleider zu sehen waren: „Das sind nicht nur Kleider, das sind Leichen!“

Ein Video zeigt einen „Friedhof der unbekannten Toten“ in Tunesien mit nun insgesamt über 800 Toten. Dieser wurde von einem Fischer angelegt, der die an einem abgelegenen Küstenabschnitt angespülten Leichen sammelt und bestattet. Da die Leichen beispielsweise nicht in der Touristenregion Djerba angespült werden, stören diese Toten den Tourismus nicht und finden keine öffentliche Aufmerksamkeit. Oehmichen berichtet vom Schicksal eines dort beerdigten achtjährigen Jungen und vergleicht es mit dem Leben seines damals etwa gleichaltrigen Sohns: Es ist ein Glück, auf der richtigen Seite des Mittelmeeres geboren worden zu sein.

Eine weitere Gefahr geht von der libyschen Küstenwache aus, die gegenüber den Rettungsorganisationen Schusswaffeneinsatz nicht nur androhen, sondern gelegentlich auch anwenden. Oftmals kommen bei Rettungsaktionen die 80 km/h schnellen Schiffe von der libyschen Küstenwache den mit 12 km/h langsameren zivilen Seenotrettern zuvor.

Die libysche Küstenwache ignoriert dabei internationales Seerecht im Umgang mit den Flüchtlingen und Seenotrettern. Sie rammen die Gummiboote der Geflüchteten während Rettungsaktionen, verteilen keine Rettungswesten, schießen gegebenenfalls auch auf Menschen, zerstechen die Boote, auf denen Leute geblieben sind, die nicht nach Libyen zurück wollen und misshandeln Menschen direkt körperlich. Viele Menschen springen dabei aus Furcht von Bord, weil sie nicht nach Libyen zurückgebracht werden wollen.

Viele Menschen, die aus den Flüchtlingslagern in Libyen entflohen sind, zeigen Spuren von Folter und Misshandlung. Laut Oehmichen ähneln sie Konzentrationslagern. Neben den offiziellen libyschen Lagern gibt es noch inoffiziell betriebene Lager, in denen die Lage vermutlich noch viel schlimmer ist.

Die libysche Küstenwache wird von EU-Staaten mit Hunderten Millionen Euro finanziert zur Küstensicherung, gemeint ist zur Verhinderung, dass Flüchtlinge sich über das Meer auf den Weg nach Europa machen und zur illegalen Zurückbringung nach Libyen. Oehmichen erklärt, dass die libyschen Küstenwache und die Schlepper oftmals in Personalunion handeln, um somit Gelder von der EU bzw. den europäischen Staaten zu erhalten. Nebenbei ernähren diese Gelder verschiedene kriegerische Akteure im libyschen Bürgerkrieg und stärken deren Position.

Der Internationale Seehandelsverkehr bewegt sich in letzter Zeit vor allem nur noch nördlich von Malta. Dies bewirkt zusätzlich, dass das Sterben im zentralen Mittelmeer zunehmend unsichtbar geschieht. Die Todesrate auf der Flucht aus Libyen stieg seither enorm an und kann wegen einer hohen Dunkelziffer kaum bemessen werden.

2016 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Sea-Eye aber erklärt angesichts der tödlichen Politik der EU im Mittelmeer: „Shame on you, Europe!“.

Oehmichen appelliert: Die zivile Seenotrettung benötigt angesichts dieser Politik dringend Geld und Unterstützung und bittet um Spenden. Der Betrieb dieser Schiffe kostet jede Woche Zehntausende Euro.

Wer sich besser, genauer und ausführlicher über die Arbeit von Sea-Eye sowie zur Seenotrettung als durch diesen nachträglich geschriebenen Bericht informieren will oder wer dafür auch spenden will, kann dies hier tun: https://sea-eye.org/