Beitrag von Dorothee Roos (KZ-Gedenkstätte Neckarelz)

15.5.2019

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

mein Name ist Dorothee Roos, ich spreche für die KZ-Gedenkstätte Neckarelz. Ich möchte zu Beginn einen Brief vorlesen. Geschrieben hat ihn ein Überlebender des Konzentrationslagers Neckarelz, der Franzose Albert Geiregat. Er hat ihn bei der Einweihung der ersten Gedenkstätte in Neckarelz an deutsche Jugendliche gerichtet. Albert Geiregat war ein politischer Häftling. Er wurde zusammen mit 150 anderen Männern seiner Heimatstadt in Lothringen Anfang September 1944 nach Deutschland verschleppt. Nur 50 dieser Männer kehrten zurück, darunter Albert.

„Januar 1945 , Januar 1998 – 53 Jahre sind vergangen, seit wir in den Konzentrationslagern hier im Neckartal gefangen waren. Mit großer innerer Bewegung sehe ich jene Orte des Leidens wieder, wo so viele meiner Kameraden ihr Leben verloren haben. Wie viele Erinnerungen kommen mir in den Sinn! Zum Beispiel unsere Ankunft zusammen mit ungefähr 200 Kameraden im Lager 1 in Neckarelz. Es war eine Schule, die man in ein Konzentrationslager verwandelt hatte. Dort habe ich einige Monate unter der verbrecherischen Naziherrschaft gelitten. Ich war erst siebzehn Jahre alt, einer der jüngsten Gefangenen im Lager …“

Ich lasse jetzt alle Teile weg, wo Albert die Lebensumstände in Lager und die Arbeitsbedingungen in der unterirdischen Rüstungsfabrik beschreibt und gehe gleich zum zweiten Teil über. „All das liegt heute so weit zurück…. Aber der Neckar ist immer noch da; ruhig fließt er zwischen seinen Ufern dahin. Schon lange hat er das Bild jener völlig abgemagerten bleichen Geschöpfe, die seine Ufer bevölkerten, in die Tiefe seiner Wasser hinuntergenommen und ins Meer getragen.

Ihr jungen Leute von heute gehört einer neuen Generation an. Nur in Gedanken kann ich eine Verbindung herstellen zwischen mir Siebzehnjährigem damals in Neckarelz und euch Siebzehnjährigen von heute. Mein Enkel, der in Straßburg lebt, ist auch siebzehn Jahre alt. Er wohnt auf dem linken, dem französischen Ufer des Rheins. Diese Grenze, die uns früher getrennt hat, verschwindet heute durch die große Europabrücke. Eure Aufgabe, die der jungen Generation, wird es sein, diese Brücke zu erhalten. Ihr müsst sie immer noch größer zu machen, im Geist der Brüderlichkeit und des wiedergefundenen Friedens. Doch seid wachsam, damit das Ungeheuer von damals nicht wieder heraufsteigt und aufs Neue die Einheit der Völker Europas zerbricht. Ich beende meine kleine Rede damit, dass ich euch unseren Wahlspruch sage. Bitte merkt ihn euch gut und behaltet ihn stets im Gedächtnis: KEIN HASS – KEIN VERGESSEN!“

Diese Rede ist jetzt 22 Jahre alt und doch von ungeheurer Aktualität. Albert Geiregat beschwört den Frieden und die Verständigung, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich, nennt aber auch den europäischen Rahmen. Das Symbol dafür ist die Europabrücke über den Rhein.

Vor 6 Tagen, am 9. Mai, haben wir den Europatag begangen – oder auch nicht. Er ist nicht sehr tief im Gedächtnis verankert, kaum jemand weiß, was am 9. Mai eigentlich los war und warum dieser Tag zum Europatag gemacht wurde. Am 9. Mai 1950, nur 5 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, schlug der französische Außenminister Robert Schumann in einer Rede die Gründung der sogenannten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vor. Diese Rede gilt als die Geburtsstunde der europäischen Gemeinschaft. Heute ist das oft in den Schulen langweiliger Bildungsstoff. Doch steckt dahinter eine wirklich revolutionäre Idee, nämlich die sogenannte Vergemeinschaftung der Schwer- oder Montanindustrie. Warum gerade Kohle und Stahl? Sie waren die Rohstoffe des Krieges. Die Idee war, sie einer wechselseitigen Kontrolle zu unterwerfen. Damit würde kein Land als einzelnes heimlich aufrüsten können. Die Montanunion wurde 1952 gegründet, 1956 ging aus ihr die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hervor. Damit wurde eine Lehre aus der Erfahrung des Krieges gezogen: Abgabe von Souveränität einerseits – und zwar für alle, nicht nur für Deutschland, da ja den Krieg verschuldet hatte – wirtschaftliche Zusammenarbeit, vertrauensbildende Maßnahmen, wechselseitiger Respekt andererseits. So sollte ein neuer Krieg vermieden und ganz nebenbei auch Wohlstand geschaffen werden.

Seitdem hat es viele Veränderungen gegeben, neue Länder traten bei, Verträge wurden geändert, der Euro eingeführt. Dennoch bleibt die EU im Kern ein Friedensprojekt – und ist in dieser Form einmalig auf der Welt. Nirgends sonst gibt es eine solche enge Zusammenarbeit und Verflechtung von souveränen Staaten, ein solches Ringen um Kompromisse, ausgefeilte Ausgleichsmechanismen und Verfahren zur Konsensfindung, auch wenn das häufig auf einem kleinen Nenner geschieht.

Uns scheint das heute selbstverständlich, und natürlich gäbe es manches Kritische in Sachen EU zu sagen. Und doch ist die EU eine Errungenschaft, die wir unbedingt erhalten und verteidigen wollen – gegen das Ungeheuer von damals, wie Albert Geiregat sagt. Und er ist nicht der einzige – sehr viele KZ-Überlebende haben Ähnliches gesagt. Gerade haben die KZ-Gedenkstätten in Baden-Württemberg ein Arbeitsheft mit dem Titel „Im Lager wurde ich zum Europäer“ herausgegeben. Im Zentrum stehen Menschen, die sich gerade wegen der Erfahrung der äußersten Gewalt für ein anderes, ein friedliches Europa eingesetzt haben.

Das Ungeheuer, von dem Geiregat spricht, tritt von innen auf. Es sind Kräfte am Werk, die vier Lehren, die Europa aus dem zweiten Weltkrieg und vor allem aus der Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus gezogen hat, am liebsten wieder rückgängig machen würden. Die erste Lehre habe ich schon genannt: Frieden schaffen durch Verflechtung, durch Zusammenarbeit und Kompromiss. Die zweite Lehre ist die Wiederherstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Umbau der Diktaturen in Demokratien. Die dritte ist das Bekenntnis zur historischen Wahrheit und der Aufbau von einer Erinnerungskultur, die dieser Wahrheit verpflichtet sind. Die vierte Lehre besteht in der Neuentdeckung und unbedingten Achtung der Menschenrechte.

Diese Zusammenstellung stammt nicht von mir, sondern von der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Sie hat letztes Jahr zusammen mit ihrem Mann Jan den Friedenspreis des deutschen Buchhandels zuerkannt bekommen. Kurz vor der Preisverleihung hat sie ein Buch geschrieben mit dem Titel „Der europäische Traum“. Dort kommt sie zu dem Schluss, dass Europa viel von seiner Strahlkraft verloren hat. Insbesondere hat die Finanzkrise und die zunehmende Spaltung in Arm und Reich das Vertrauen in das Wohlstandsversprechen erschüttert. Aleida Assmann plädiert dafür, die leere Mitte des europäischen Sternenkreises, in der vielleicht die ganze Zeit unsichtbar der Euro gestanden hat, mit etwas Neuem aufzufüllen. Dieses Neue könnte so etwas sein wie ein ständiger Dialog der Zivilgesellschaft über die vier Werte Frieden, Demokratie, Erinnerung und Menschenrechte.

Interessant ist, dass die Erinnerungskultur dabei eine so große Rolle spielt. Albert Geiregat schließt seinen Brief mit den Worten: Kein Hass – kein Vergessen! Das heißt in der Umkehrung: die Erinnerung ist die Voraussetzung für den Frieden, für das Aufeinanderzugehen auf der großen Brücke über den Fluss, der einmal die Grenze zwischen den sogenannten Erzfeinden gebildet hat. Erinnerung hat ganz viel mit Geschichte zu tun, mit dem Blick auf die eigene Geschichte und die der anderen. Je mehr wir darüber in Austausch treten und aushalten, dass andere vielleicht einen anderen Blick darauf haben, umso besser und letztlich heilsamer. Das ist genau das Gegenteil von Schuldkult – einem der Kampfbegriffe der AfD. Dieser Austausch ist nicht rückwärtsgewandt, sondern zukunftweisend. Die Gedenkstätten sind wichtige zivilgesellschaftliche Orte, an denen solch ein Austausch geschieht.

Doch nicht nur dort, natürlich. Gestern stand in der Rhein-Neckar-Zeitung, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland den Dialog mit den Muslimen suchen will. „Dem Hass einen konstruktiven Dialog entgegensetzen“ – so lautete die Überschrift. Es soll darum gehen, Vorurteile und Ängste abzubauen, die verschiedenen Sichten auf die eigene Geschichte, auf Religion und Gesellschaft kennenzulernen – und vor allem einander kennenzulernen. Auch hier könnte eines Tages eine Brücke entstehen. Wo, wenn nicht hier, in Europa, in Deutschland? Das ist eine sehr gute Alternative zu Vorurteil und Hass – und damit eine echte „Alternative für Deutschland“, die diesen Namen wirklich verdient.